Ein merkwürdiges Juwel der Medizingeschichte

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Der Narrenturm in Wien verfällt. Aber nicht mehr lange. Der 1784 von Kaiser Josef II mit revolutionärem Konzept erbaute Turm für psychisch Kranke wird nun rückgebaut in seinen ursprünglichen Zustand. Mit Umsicht und Feingefühl für das medizingeschichtliche Erbe, die bestehende Sammlung und moderne Ansprüche.

Der Wiener Narrenturm ist in der gesamten europäischen Museumslandschaft sicher die merkwürdigste Institution. Der „Guglhupf“, wie die Wiener ihn wegen der Formgleichheit mit ihrer Lieblingssüßspeise benannten, beherbergt das größte pathologische Museum der Welt. Die Sammlung umfasst mittlerweile mehr als 50.000 Humanpräparate. „Die Sammlung und das Gebäude sind untrennbar zusammengewachsen“, sagt Eduard Winter, Leiter der pathologisch-anatomischen Sammlung. Heute verursacht das Museum den meisten Menschen ein dezentes Grauen. Vielleicht auch, weil Krankheit und Tod aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt werden.

[caption id="attachment_2048" align="aligncenter" width="300"]NARRENTURM. Ursprünglich hatte der Narrenturm eine Spitze, wie an dieser historischen Zeichnung zu sehen ist. NARRENTURM. Ursprünglich hatte der Narrenturm eine Spitze, wie an dieser historischen Zeichnung zu sehen ist.[/caption]

Humanitäre Psychiatrie

Dabei war der Bau von Reformkaiser Josef II eine Revolution in der Medizingeschichte. Bis 1784 wurden psychisch kranke Menschen in Sonderzimmern von Spitälern meist angekettet untergebracht. Das Konzept in Wien wollte jedoch nicht Verwahranstalt sein wie etwa das für grausame und menschenunwürdige Zustände bekannte Bethlem Royal Hospital in London, sondern ein humanitäres „Krankenhaus“. Das bedeutete: rund um die Uhr anwesende Ärzte, Behandlungspläne und regelmäßige Untersuchungen.

MM-F_Narrenturm-4Kaiser empfängt im Dachboden des Narrenturms

Der aufgeklärte Kaiser finanzierte den Turm aus privater Kasse, während der von ihm ebenfalls initiierte Bau des Allgemeinen Krankenhauses noch in Gang war. Der Turm besteht aus fünf Stockwerken mit je 28 Zellen, die zwölf Quadratmeter messen. Jede dieser ringförmig angelegten Zellen war mit einer Türe und einem kleinen, hochgelegenen Fenster ausgestattet. Im Mitteltrakt waren Sekundararzt und Untersuchungszimmer untergebracht. Aus der Vogelperspektive betrachtet, sieht das Gebäude wie das Rad einer Maschine aus, das mystisch interpretiert als Zahnrad zum Kosmos gesehen wurde und wird. Manche Experten meinen, Joseph II ließ östliche Zahlenmystik auch beim Oktogon am Dachboden einfließen. Dorthin zog sich der Reformkaiser häufig zurück und hielt Privataudienzen ab.

Fast hundert Jahre war die Psychiatrie ein Symbol und Magnet. 1869 wurde die Anstalt geschlossen. Die weitere Nutzung blieb vorerst unklar. Arbeiterwerkstätten für das AKH, Notfallzimmer und Studienzimmer ließen sich mehr zufällig oder aus Platznot hier nieder. Im Jahr 1905 fiel eine Entscheidung und man nützte es nach kleineren Umbauten als Wohnheim fürKrankenschwestern. Beispielsweise wurden die von außen zu öffnenden Durchreichen der Türen vernagelt oder ersetzt. Man vergrößerte die Fenster und modernisierte.

Sammlung und Narrenturm vereint

1971 zog das pathologisch-anatomische Museum mit den Humanpräparaten in den Narrenturm ein. Die Sammlung ist renommiert und gilt als Meilenstein in der Medizingeschichte. „Die Bedeutung der Sammlungsobjekte als Spurenträger künftigen Wissens ist auch in der heutigen Medizin nicht zu unterschätzen“, sagt Leiter Eduard Winter. Trotzdem kommen nur selten Medizinstudenten hierher. Seit 2012 wird der Bestand aufgenommen, untersucht und analysiert, da der Beschluss fiel, das Gebäude als Erbe zu erhalten.

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Seit 1993 die Krankenschwestern ausgezogen sind, dient der Narrenturm einzig der Sammlung und dem Museumsbetrieb. „Nur selten kommen Medizinstudenten in ihrer Ausbildung hierher, aber vielleicht werden es künftig wieder mehr“, hofft Eduard Winter. Denn eines ist ihm wichtig: „Der Narrenturm und die Sammlung gehören untrennbar zusammen, was als Erbe gemeinsam erhalten werden soll.“ Dann behält das medizinhistorische Erbe auch seinen Wert für die Zukunft, wie es eine Inschrift am Torbogen - nur etwas altmodischer - sagt: „Hier ist der Ort, an dem sich der Tod freut, dem Leben zu helfen.“


HISTORIE DES NARRENTURMS

1784: Kaiser Josef II beauftragt den Bau des Narrenturms bei Architekt Josef Gerl. Es war die erste psychiatrische Anstalt mit einem Krankenhauskonzept. 1796: Kaiser Franz II gründet das Museum des Pathologisch-anatomischen Instituts, erste Adaptierungen wie Fenster und Toiletten 1869: Schließung der Anstalt ab 1905: Parallel zum Museum wird ein Wohnheim für Krankenschwestern des AKHs (Allgemeinen Krankenhauses) betrieben 1939 – 1945: Narrenturm diente als Bunker 1971: Die Sammlung erhält ihren Sitz im Narrenturm 1974: Übergabe an Bundesmuseen 1993: Krankenschwestern ziehen aus 2012: Eingliederung in die wissenschaftliche Anstalt Naturhistorisches Museum Wien (NHM)


The so-called “Narrenturm” (Fools’ Tower) in Vienna is definitely the most remarkable institution among all European museums.

The “Guglhupf” - as it was named by the Viennese because it looks like their favourite cake – contains the largest pathological museum in the world. The collection now comprises more than 50,000 human specimens. Today, the museum causes most people to shiver. Maybe also because illness and death are excluded from our society, notes Eduard Winter, head of the pathological-anatomical connection.

Humanitarian psychiatry

The construction commissioned by emperor Joseph II was a revolution in medical history. Until 1784 people with mental illnesses were mostly chained to the walls in special rooms in hospitals. Vienna wanted to be a humanitarian hospital with doctors being present around the clock and regular examinations.

Imperial reception room under the roof

The enlightened emperor paid for the construction of the tower with his own money while work on the General Hospital was still under way. The tower consists of five levels with 28 cells each, all of which had 12 square metres, a door and a small window. In the adjacent wing were the doctors and examination rooms.

From above, the tower looks like the wheel of a machine – mystically interpreted as the cog to the universe. Some experts think Joseph II also used Eastern mysticism of numbers for the octagon under the roof where he often withdrew to and held private audiences.

In 1869 the asylum was closed. Over the years, it was used by various institutions in need of space. In 1905, it was decided to use the tower as a dormitory for nurses after small adaptations and modernisations.

Collection and tower united

In 1971, the pathological-anatomical museum with its human specimens moved into the Narrenturm. In 1993, the nurses moved out and the building is now solely used for the collection and as a museum. The collection is famous and considered a landmark in medical history. Its “importance as source for traces of future knowledge should not be underestimated even in modern medicine”, says Winter. Nevertheless only few medical students are visiting.

Since 2012 the inventory is being catalogued, examined and analysed. “The Narrenturm and the collection are inseparable and should be maintained as joint heritage,” stresses Winter. Only then it can preserve its value for the future – a concept expressed in a more old-fashioned way in the writing above the doorway: “This is the place where death is happy to help life.”