Müssen die Alten weichen?

Gentrifizierung. Immer mehr Menschen leben in Städten, Wohnungen sind knapp, Immobilien gewinnen als Anlage zunehmend an Attraktivität, die Mieten steigen – das trifft vor allem ärmere Schichten. Verdrängen die reichen Jungen die armen Armen aus den Städten?

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Gentrifizierung. Immer mehr Menschen leben in Städten, Wohnungen sind knapp, Immobilien gewinnen als Anlage zunehmend an Attraktivität, die Mieten steigen – das trifft vor allem ärmere Schichten. Verdrängen die reichen Jungen die armen Armen aus den Städten?

Neben der Umsetzung der Projekte für die Stadtentwicklungsgebiete ist die Frage, was in den bereits vorhandenen Wohn-, Gewerbe- und Bürohäusern passiert, sehr wesentlich. Wie kann der Benutzer in den teilweise schon sehr alten Gebäuden weiter Leben und Arbeiten, ohne dass auf technische Weiterentwicklung und steigenden Lebensstandard verzichtet werden muss? Nicht nur bauliche Gegebenheiten, Denkmalschutz, vorhandene Nutzungsvorschriften, sondern auch gesellschaftliche und soziale Entwicklungen bilden beeinflussende Faktoren.

Seit den 60-er Jahren des letzten Jahrhunderts wird dieser Prozess von Forschern in verschiedenen Städten Europas und den USA beobachtet, seit der Jahrtausendwende ist es auch im deutschsprachigen Raum ein Thema. Der typische Ablauf dieses Prozesses ist: Wohnungen werden top saniert, die Mieten explodieren - und die in diesem Bezirk lebenden Bevölkerungsschichten können sich diese Mieten nicht mehr leisten.

Anfangs stehen in den betroffenen Stadtteilen, in denen hauptsächlich Menschen mit niedrigem Einkommen leben, Wohnungen oder alte Gewerbebetriebe leer. Dorthin ziehen Künstler und Studenten, die Mieten sind billig und die Gestaltungsmöglichkeiten lassen viel Raum für Kreativität. Es ziehen Beisel, Cafés und kleine Geschäfte nach. Diese „Pioniere“ machen den Stadtteil mit ihrer Arbeit interessant und attraktiv für Menschen mit höherem Einkommen, die ersten „Gentrifier“. Diese sind bereit, höhere Mieten zu zahlen, einige von ihnen kaufen auch die alten Wohnungen und renovieren sie. Immer weniger günstige Wohnungen stehen leer, die Mieten und Grundstückspreise steigen. Auch Investoren entdecken das Viertel, kaufen Wohnungen, renovieren und vermieten sie anschließend für teures Geld. Ärmere Schichten, vor allem aber deren Nachkommen, Studenten und Künstler können sich das Viertel nicht mehr leisten und wandern ab.

Gentrifizierung nachzuweisen ist schwer, viele glauben, dass das Phänomen überschätzt wird und sich nur in wenigen Straßen abspielt. Wenn man in Wien bestimmte Viertel, wie das Servitenviertel im neunten Bezirk, weite Gegenden des zweiten Bezirkes, oder auch das Gebiet an der Alten Donau in Floridsdorf und der Donaustadt betrachtet, kann man auch gegenteilige Schlüsse ziehen.

Ein typischer Gentrifizierungs-Hot-Spot im heutigen Wien zeichnet sich im Stuwerviertel ab. Hinter dem Praterstern, zwischen Lasallestraße und Ausstellungsstraße gelegen, war das Viertel jahrzehntelang vom anliegenden Volksprater und Mexikoplatz bestimmt. Prostitution, Zuhälter, Schmuggler und Hehler prägten das Milieu. Das bürgerliche Wien mied die Gegend wie der Teufel das Weihwasser. Mit der Inbetriebnahme der U1 in den 80-er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde die Gegend intensiver mit der Innenstadt verbunden und bildete einen Brückenkopf zu den Bezirken über der Donau mit UNO-City und den dort entstehenden Einrichtungen vom Austria Center bis zum heutigen Tech Gate und der Verbauung der Donauplatte.

Günstige Boden- und Mietpreise ließen an der einen Seite des Stuwerviertels Verwaltungsgebäude großer Firmen wie der Telekom und der Unicredit an der Lassallestraße entstehen. Auf der anderen Seite entstanden, da nun, spätestens mit der Eröffnung der U2, auch eine sehr gute Verkehrsanbindung gegeben war, nach der Übersiedlung der Messe Wien aus dem heutigen Museumsquartier xc Hotels, die Zentrale der OMV und die neue Wirtschaftsuniversität. Das Viertel liegt somit zwischen den beiden Stadtentwicklungsprojekten Nordbahnhof und Viertel Zwei. Was nun passiert, ist sehr absehbar. Mehr und mehr Menschen, Studenten und Wiener, die in der Gegend Arbeit gefunden haben, wollen hier auch wohnen und leben. Mietshäuser werden saniert, aufgestockt, Dachböden ausgebaut, Studentenheime entstehen, die Preise steigen. Das Milieu wird mehr und mehr zurückgedrängt. Lokale, die auch von normalen Bürgern mit Familien frequentiert werden, eröffnen. Das Viertel wandelt sich und wird aufgewertet.

Die vier A

Natürlich ist nichts dagegen einzuwenden, wenn Häuser saniert werden und neues Leben in den Straßenzügen entsteht. Erfahrungen zeigen, wenn über Jahre nichts gemacht wird, entwickeln sich Stadtteile negativ und die Bewohner tendieren eher zu Haus und Garten am Stadtrand. In der Innenstadt bleiben die vier „A“, wie es die Forscherin Ilse Helbrecht von der Humbold-Universität Berlin bezeichnet: „Arme, Alte, Arbeitslose und Ausländer.“

Aus diesem Grund versuchen die Planer auch, die Innenstädte für alle Gesellschaftsschichten attraktiv zu halten. Es ist ökologisch sinnvoller, bereits bebaute Flächen zu nutzen, als neue zu bebauen. Viele Pendler aus den Vorstädten führen zu übermäßigem Verkehr und Umweltbelastung. Langfristig sollten die Stadtteile ausgewogen gentrifiziert, eine gleichmäßige soziale Mischung erhalten bleiben. Eine Forderung, die das traditionell rote Wien vor neue Aufgaben stellt.


GENTRIFIZIERUNG

Unter Gentrifizierung versteht man eine bestimmte Form der Veränderung von Stadtteilen: den Wechsel von einer Bewohnerschaft mit niedrigem Einkommen und Status zu einer statushöheren Bewohnerschaft mit mehr Einkommen.

Den Begriff gentrification hat die britische Soziologin Ruth Glass in den 60er Jahren geprägt, um genau diesen Prozess im Londoner Stadtteil Islington zu beschreiben. Gentry ist das englische Wort für niederen Adel oder Landadel. Glass zog in ihren Forschungen Parallelen zu Entwicklungen des 18. Jahrhunderts, als eben jener niedere Adel vom Land in die Metropolen zog und mit der ärmeren Bevölkerung um Wohnraum konkurrierte.